„Philosophie als strenge Wissenschaft“

Die Strenge, die Husserl in seiner kleinen Programmschrift Philosophie als strenge Wissenschaft anspricht, ist nicht zwangsläufig Genauigkeit oder Exaktheit. Strenge meint vor allem, daß der Anspruch der Philosophie, authentisches Wissen zu sein, nicht aufgegeben werden darf. Wahrheits-, Geltungs- und Erkenntnisansprüche lassen sich jedoch nur einlösen, wenn die Philosophie mehr und anderes ist als Weltanschauung, wenn ihr Vorgehen ein methodisches ist und nicht bloß eine Sichtweise, die so oder anders ausfallen kann. Das Beharren auf Strenge ist bei Husserl vor allem mit der Abwehr zeitgenössischer Formen der Philosophie verbunden. Gegen Nietzsche wendet sich etwa ein gewisser Sokratismus Husserls, der als Schulgründer der Phänomenologie sich gegen lebensphilosophische oder gegen dezisionistische und psychologistische Tendenzen seiner Zeit richtet. Husserl, anfangs noch dem Neukantianismus verbunden, hält es mehr mit einer Traditionslinie, die bis zu Descartes zurückreicht. Eines seiner Spätwerke sind die Cartesischen Meditationen.

Husserl hat gesehen, daß die großen Fragen des Menschen, die das philosophische Denken ins Spekulative hinüberziehen, die Vernunft zum Überschreiten ihrer Grenzen verlocken (schon Kant hatte diesbezüglich der Vernunft Grenzen aufgewiesen) und mahnt die Strenge der Philosophie an, sofern diese eine Wissenschaft sein will. Gegen Nietzsche, Schopenhauer und Kierkegaard, aber auch gegen die spekulativen Systeme des Deutschen Idealismus fordert Husserl eine sokratische Erneuerung der europäischen Philosophie. Es geht ihm um allgemeine und evidente Strukturen des Denkens, die er mit mittels einer strengen Methode offenlegen will. Die Strenge betrifft also weniger die Genauigkeit und Exaktheit des Ergebnisses als mehr die Methodik, welche zu diesen Ergebnissen führt.

Das Arbeitsfeld der Phänomenologie ist das Bewußtsein. Dabei entsteht zu Beginn des Jahrhunderts für die Phänomenologie eine Art Konkurrenzunternehmen. Im Jahr 1900 erscheinen nicht nur Husserls Logische Untersuchungen; es ist auch das Erscheinungsjahr von Freuds Traumdeutung. (Es ist auch Nietzsches Todesjahr.) Auch die Psychologie – nicht allein die Psychoanalyse – schickt sich an, das Bewußtsein zu ihrem Gegenstand zu machen. Husserl wendet sich gegen alle Formen der „Naturalisierung des Bewußtseins“. Phänomenologie hat es mit den allgemeinen Strukturen des Bewußtseins zu tun, nicht mit individuellen Bewußtseinsstörungen u.ä.

In der späten Krisis-Abhandlung hat Husserl übrigens andere Akzente gesetzt. Die Phänomenologie ist in dieser Hinsicht auch ein Denkweg; darüberhinaus auch eine Denkschule, an der andere Philosophen beteiligt sind. Bis heute.