Philosophischer Gesprächskreis

Da kann ich dich sehr gut verstehen Nauplios. Grundsätzlich bevorzuge ich auch die Bücher in begreifbarer Form. Besonders antike Lektüren mag ich sehr. Ab und zu lese ich Märchen in altdeutscher Schrift, dies wäre für mich digital nie interessant. Im digitalen Bereich gibt es jedoch andere interessante Dinge zu entdecken. So hat jedes sein besonderen Reiz und auch seine Vorzüge. Hörbücher sind für mich eine ganz andere Art die Erzählung wahrzunehmen, wie gesagt für manche Alltagssituationen absolut perfekt. 😉
(02.11.2023 Andrea)

Ich habe mir das Hörbuch („Die Frau und die Landschaft“) angehört, Andrea. Danke für die Verlinkung. Es war das erste Hörbuch meines Lebens. Bis dahin hatte hier und da nur mal kleine Audio-Schnippsel aus Hörbüchern gehört. Das war nie meine Welt. Ich brauche immer das geschriebene Wort, muß etwas in der Hand halten. Bücher liegen ja auf eine ganz besondere Weise in der Hand. Dieses haptische Erlebnis hat für mich eine eigene Erotik. Man fährt zärtlich mit der Hand über die Seiten, spürt die Schwere des Buchs, seine Widerständigkeit, atmet seinen Duft ein usw. – „Die Frau und Landschaft“ hat mir dennoch gut gefallen. Die Mühen des Lebens werden einem beim Hörbuch abgenommen, dafür erfordert das Hören Konzentration. Für Erzählungen mag das Vorlesen gut sein, bei Romanen kann ich es mir nicht so gut vorstellen. Trotzdem danke ich Dir für den Link, Andrea. Das war eine interessante Hör-Erfahrung. 😉

(Nauplios – 30. Oktober 2023)

Wenn der Himmel die Erde berührt

Wenn in stressigen Phasen der Alltag in ein Hamsterrad kippt, ist es oft nicht möglich den gewohnten Lesestunden Raum zu geben.
Hörbücher bieten mir dann eine Gelegenheit den Alltag etwas zu entfliehen und nötige Tätigkeiten dennoch zu erledigen.
Ich bin dabei über ein sehr interessantes Hörbuch von Stefan Zweig gestolpert. „Die Frau und die Landschaft“
Stefan Zweig verwebt Landschaft und Naturgewalten mit der menschlichen Psyche. In der Beschreibung der verändernden Witterung lässt Stefan Zweig eine Berührung zwischen Himmel und Erde entstehen und flechtet in seinem Werk die menschliche Gefühlswelt mit ein.
(Andrea H., 22.10.23)

„In der Welt der Philosophie hat dieses Denkparadigma zu zahlreichen Diskursen geführt, die auf der Grundannahme basieren, dass ‚jeder weiß…“, was die Wahrheit einer fundamentalen Idee oder Aussage ausmacht. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist Descartes‘ berühmter Ausspruch „Ich denke, also bin ich“, der darauf hindeutet, dass die Fähigkeit zu denken bereits die Existenz begründet. Deleuze weist jedoch darauf hin, dass solche philosophischen Ansätze dazu neigen, alle objektiven Bedingungen zu eliminieren, während sie gleichzeitig die subjektiven beibehalten.“ (Jenny zum dritten Kapitel von Deleuze‘ „Differenz und Wiederholung“)

Danke für Deine detaillierte Zusammenfassung des dritten Kapitels von Differenz und Wiederholung, Jenny. „Es gibt keinen wahren Anfang in der Philosophie,“ schreibt Deleuze in diesem Kapitel. Und es gibt drin den weiteren Befund: „Die Postulate der Philosophie sind nicht Sätze, deren Zugeständnis der Philosoph einfordert, sondern im Gegenteil Themen von Sätzen, die implizit bleiben und auf vorphilosophische Weise verstanden werden.“ (Gilles Deleuze; Differenz und Wiederholung; S. 172). – Mich hat dieses „dogmatische Bild“ (Deleuze) sehr an Husserls „vorprädikative Erfahrung“ erinnert. In Erfahrung und Urteil hat Husserl eine Theorie der „vermeinten Gegenstände“ entwickelt, die wir vor dem Einsatz der Erkenntnisbewegung haben. In diesem Zusammenhang geht es um das, was Husserl später „Lebenswelt“ genannt hat. Ist das „Jedermann weiß“, welches Deleuze hier anspricht, mit der „vorprädikativen Erfahrung“ Husserls vergleichbar?

(Nauplios – 07. Oktober 2023)

Pindars siebte isthmische Ode – In den Gesängen Pindars wird der Unterschied zwischen dem griechischen Polytheismus und dem Monotheismus des Christentums oder auch des Judentums deutlich. Im antiken Polytheismus gibt es eine Gewaltenteilung; es gibt Zuständigkeitsbereiche für die göttlichen Instanzen, die sich von den Menschen, den Sterblichen, im wesentlichen dadurch unterscheiden, daß sie unsterblich sind. In den isthmischen Gedichten kommen keine Gebete im christlichen Sinne vor; die Götter sind zwar Mächte, die man durch Opfergaben günstig stimmen kann, damit sie einem nicht in die Quere kommen – etwa im Falle einer gefährlichen Seefahrt. Und in den antiken Tempeln wurde auch erbitten und erfleht, aber es gab keine Theologie im engeren Sinne, keine Dogmatik, keine heiligen Schriften, keine Orthodoxie und demzufolge auch keine Häresie. – Vielleicht finden wir in Rudolf Ottos Studie über Das Heilige, die Dir ja auch vorliegt, Andrea, noch nähere Hinweise. 😉

(Nauplios – 24. September 2023)

Ist nicht auch der damalige Epochenwandel von der Antike zum Mittelalter wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass sich bei den Menschen dieses göttliche einheitliche Bild ganz durchsetzte. Das Judentum gehört zu den ältesten monotheistischen Religionen. Vor dem Mittelalter wurde jedoch in Europa überwiegend Polytheismus praktiziert. So zumindest meine Auffassung. Es wurden langsam die alten Götterbilder abgelöst. Viele Bräuche, beispielsweise der Kelten wurden in die christliche Welt eingebunden. Somit gab es schon immer ein „Miteinander Verwachsen“. Auch der in der Moderne bestehende Streit zwischen Naturwissenschaften und Glaube ist fraglich, denn eigentlich müsste der moderne Mensch wissen, dass etwas Neues nur dadurch entstehen konnte, da es den Wert des Alten in sich trägt.

Nauplios, du hast einen sehr guten Überblick von den Schulen und Strömungen im Mittelalter geschaffen. Danke, jetzt habe ich ein klareres Bild. 😀

(Andrea, 24.09.23)

Das Jahrtausend des Mittelalters hat natürlich eine Fülle von philosophischen Strömungen und Schulen hervorgebracht, die mit der Bezeichnung „mittelalterlich“ eigentlich bereits stigmatisiert sind. Sagt man zu jemandem, er habe „mittelalterliche“ Ansichten, dann ist damit von vornherein der Eindruck des nicht mehr Zeitgemäßen, des Zurückgebliebenen und „Verstaubten“ verbunden. „Mittelalterlich“ nennen wir gemeinhin das, was für uns keine Bedeutung mehr hat, was nur noch für Historiker von Interesse ist. Das hängt u.a. damit zusammen, daß die Neuzeit ein Selbstbewußtsein entwickelt hat, das sich aus ihrer Absetzung, ihrer Überwindung des „Mittelalters“ verstanden hat, während das „Mittelalter“ selbst sich sehr viel weniger als Bruch mit der Antike gesehen hat. Hans Blumenberg hat diese Epochenschwellen in seinen großen Studien über die Legitimität der Neuzeit und die Genesis der kopernikanischen Welt eingehend untersucht.

Im allgemeinen nennt man für das Mittelalter den Zeitraum von ca. 500 bis ca.1500. Philosophisch setzen die Lehrbücher der Philosophiegeschichte hier meist Descartes an den Beginn der Neuzeit. Einige Philosophiegeschichten zählen auch bereits die Patristik zur mittelalterlichen Philosophie. Patristik ist die sogenannte Lehre der Kirchenväter. Einen ganz wichtigen Kirchenlehrer hast Du bereits genannt, Andrea: Augustinus. Die Patristik erstreckt sich vom 1. Jahrhundert n. Chr. bis ins 7. Jahrhundert. Andere bedeutende Kirchenväter sind zum Beispiel Tertullian, Hieronymus, Origines, Irenäus von Lyon, Gregor von Nazianz. Eine ganz wichtige Strömung dieser Zeit ist die Gnosis, zu deren Einfluß die Arbeiten von Hans Jonas und Hans Blumenberg viel beigetragen haben.

Die Scholastik ist die zweite „Schule“ von großer Bedeutung. An ihrem Beginn steht Boethius. Thomas von Aquin hattest Du neben Albertus Magnus u.a. schon genannt. Weitere wichtige Philosophen der Scholastik sind Anselm von Canterbury, Petrus Abaelard, Johannes Duns Scotus, Wilhelm von Ockham, Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, der im Grunde bereits „neuzeitlicher“ orientiert ist als Descartes.

Der wichtigste außereuropäische Einfluß, insbesondere für die Scholastik, lag in den Übersetzungen vom Griechischen ins Lateinische und den Kommentaren zur antiken Philosophie durch arabische Philosophen wie etwa Averroes, Al-Kindi, Al Farabi u.a.

An der Schwelle zur Neuzeit steht die Renaissance. Hier sind es die Gelehrten des Humanismus, die in den antiken Schriften die Leitbilder ihrer Orientierung sahen. Bedeutende Philosophen und Künstler dieser Phase sind u.a. Dante, Petrarca, in der Malerei etwa Botticelli, Leonardo da Vinci, Raffael, Tizian und Albrecht Dürer, in der Philosophie Niccolò Machiavelli oder Erasmus von Rotterdam.

All das sind nur ganz grobe Linien. Das Mittelalter ist in seiner Philosophie- Literatur- und Kunstgeschichte sehr viel komplexer und vielschichtiger. Kaum.eine Lebenszeit wäre ausreichend, um all diese Strömungen bis in ihre feinsten Verästelungen zu durchdringen. Und sehr häufig wird das Mittelalter eben vorschnell als „mittelalterlich“ abgetan, so als sei die Neuzeit in einem Gründungsakt, verbunden mit einem lauten Knall, gleichsam über Nacht entstanden und habe alles Vorherige durchgestrichen. So wird das Mittelalter zu einer einzigen Phase von Irrtümern und Aberglauben, zu einer „finsteren“ Epoche erklärt. Aber genau das war diese Zeit nicht. Sicher, die Standards der Hygiene, der Medizin, das Wissen … all das läßt sich mit den heutigen Standards nicht vergleichen. Die Macht des Klerus, Religionskriege, Hexenverbrennungen usw. all das gehört auch zum Mittelalter. Man muß nur eines sehen: die Konzentrationslager sind eine Erfindung der Moderne. Die Aufklärung hat die Unmenschlichkeit nicht abschaffen können. Mit welchem Recht nennt die Moderne das Mittelalter „finster“?

(Nauplios – 21. September 2023)

Buchvorstellung Andreas Speer – 1000 Jahre Philosophie

Nauplios, du hast das interessante Buch vorgestellt, welches den Blickpunkt auf die Zeit der Philosophie im Mittelalter wirft. Mir ist da ehrlich gesagt, gar nicht so viel bekannt. Augustinus, Dionysius Areopagita, Thomas von Aquin, Franziskus von Assisi, Albertus Magnus, Teresa von Avila beispielsweise sind mir ein wenig geläufig. Welche weiteren Persönlichkeiten prägten denn auch noch diese Zeit?

(Andrea, 21.09.23)

Heidegger war ein großer Freund des Altgriechischen. Das Sein hatte für ihn in dieser Sprache seine Ursprünglichkeit. Der Philosoph habe sozusagen griechisch zu denken, um diesem Sein auf die Spur zu kommen. Dem Altgriechischen am nächsten kam für ihn die deutsche Sprache. So heißt es bei ihm, „daß die griechische Sprache philosophisch ist, d. h. nicht: mit philosophischer Terminologie durchsetzt, sondern als Sprache und Sprachgestaltung philosophierend. Das gilt von jeder echten Sprache, freilich in je verschiedenem Grade. Der Grad bemißt sich nach der Tiefe und Gewalt der Existenz des Volkes und Stammes, der die Sprache spricht und in ihr existiert. Den entsprechenden tiefen und schöpferischen philosophischen Charakter wie die griechische hat nur noch unsere deutsche Sprache. (Martin Heidegger; Gesamtausgabe Bd. 31; S. 50ff)

Die Sprache (Griechisch und Deutsch) selbst hat gleichsam eine Begabung zur Philosophie. Barbara Cassin hat dazu einen Gegenentwurf vorgelegt, indem sie die verschiedenen Sprachen Europas nicht unter einem „ontologischen Nationalismus“ betrachtet. Ihr geht es darum, „Philosophie in Sprachen zu denken, sich mit Philosophien zu beschäftigen, wie sie sich in Sprache äußern, und zu sehen, wie sich damit unsere Art zu philosophieren ändert.“ Dies ist das Programm des von ihr herausgegebenen Vocalulaire européen des philosophies (2004), das nicht einfach nur den herkömmlichen Wörterbüchern der Philosophie ein weiteres hinzufügt, sondern es zielt darauf ab, „den Sinn eines Wortes in einer bestimmten Sprache zu erforschen, die Bedeutungsnetze aufgezeigt, in die es eingebunden ist, und es wird untersucht, wie ein Bedeutungsnetz in einer bestimmten Sprache funktioniert, indem es zu jenen anderer Sprachen in Beziehung gesetzt wird.“

Im Vorwort des Vocalulaire européen des philosophies schreibt Barbara Cassin:

„Wir plädieren weder für einen logischen Universalismus, dem Sprachen gleichgültig sind, noch für einen ontologischen Nationalismus, der vom wesensimmanenten Genie der Sprachen ausgeht. Unsere Haltung wäre mit Gilles Deleuze als ‚Deterritorialisierung‘ zu bezeichnen. Sie setzt der Geografie die Geschichte entgegen, das semantische Netz dem isoliertem Begriff. Ausgangspunkt ist stets die Vielheit (wie sie die Plurale im Titel jenes Wörterbuchs anzeigen: Philosophien, Unübersetzbarkeiten), und sie wird beibehalten.“ (Barbara Cassin – In Sprachen denken)

(Nauplios – 10. September 2023)

Es gibt einen interessanten Aspekt in der Denkweise von Deleuze. Er betrifft das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte. Allgemein wird ja dieses Verhältnis als eines des permanenten Aufbaus und Ausbaus, als Entwicklung des Späteren aus dem Früheren oder gar als ein andauernder Fortschritts gedacht. Wilhelm Dilthey beispielsweise spricht von einen Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Philosophie- und Ideengeschichte erscheint damit als linearer Prozeß, der in seinem Fortgang aus einem Bestand an „Klassikern“ schöpft. „Wir sind wie Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, sodass wir mehr als sie und weiter sehen können, nicht weil wir scharfsichtiger oder größer wären, sondern weil die Größe der Riesen uns hochhebt und über sie hinausschauen lässt.“ (Bernhard von Chartes) –

Insbesondere die Philosophische Hermeneutik hat diese Vorstellung kultiviert und die Deutung der philosophischen Grundtexte zum bewegenden Prinzip der Philosophiegeschichte erhoben. Danach gehört zum Wesen des Philosophierens Auslegung und Interpretation.

Mit dieser Vorstellung bricht Deleuze. Er wendet sich dabei keineswegs von den „großen Denkern“ und den von ihnen begründeten Traditionen ab, sieht aber in diesen Traditionen einen repressiven Charakter infolge einer Dominanz der Philosophiegeschichte gegenüber der aktuellen Philosophie. Über Differenz und Wiederholung schreibt Foucault: „Das Buch von Deleuze sollte man aufschlagen wie die Türen eines Theaters, wenn das Rampenlicht aufleuchtet und der Vorhang sich hebt. Zitierte Autoren und unzählige Anspielungen – das sind die Personen.“ (Michel Foucault; Der Ariadnefaden ist gerissen; S. 8) Die Philosophie Deleuzes sei ein „theatrum philosophicum“. Er erzählt nicht die Reihen- und Abfolge einzelner Systeme und Denkschulen, sondern setzt sie gleichsam in Szene.

In Was ist Philosophie? (Deleuze/ Guattari) heißt es:„Die philosophische Zeit ist somit eine grandiose Zeit von Koexistenz, die das Vorher und Nachher nicht ausschließt (…), aber sie ist ein unendliches Werden der Philosophie, das sich mit deren Geschichte überschneidet, nicht aber mit ihr verschmilzt.“

Und in wundervoller Metaphorik: „Das Leben der Philosophen und das, was an ihren Werken am äußerlichsten ist, gehorcht den Gesetzen gewöhnlicher Abfolge; ihre Eigennamen aber koexistieren und erstrahlen, sei es als Lichtpunkte, die uns noch einmal die Komponenten eines Begriffs durchlaufen lassen, sei es als die Kardinalpunkte einer Schicht oder eines Blatts, die uns immer noch erreichen, wie erkaltete Sterne, deren Licht strahlender ist denn je. Die Philosophie ist Werden; nicht Geschichte; sie ist Koexistenz von Ebenen, nicht Abfolge von Systemen.“ (Deleuze/Guattari; Was ist Philosophie?; S. 67f.)

(Nauplios – 7. September 2023)

Vielen Dank, Transfinitum, für Deine ausführliche Vorstellung von Differenz und Wiederholung  von Gilles Deleuze. Und wenn ich es richtig sehe, dann ist Deine Buchbesprechung noch nicht abgeschlossen. Differenz und Wiederholung ist ein Klassiker des französischen Poststrukturalismus, ein Grundtext postmoderner Philosophie, der dem Leser ausgesprochen viel Beharrungsvermögen und Geduld abverlangt.

(Nauplios – 5. September 2023)