Jacques Derrida – Die Stimme und das Phänomen

„Denn wenn das Zeichen dem vorausginge, was man Wahrheit oder Wesen nennt, so hätte es keinen Sinn, von der Wahrheit oder dem Wesen des Zeichens selbst zu sprechen. […] Ist nicht das Zeichen vielmehr anderes als Seiendes, ist es nicht die einzige ‚Sache‘, die, da sie keine Sache ist, sich nicht unter die Frage ‚Was ist das?‘, stellen ließe, sondern im Gegenteil diese Frage bei gegebenem Anlaß erst hervorbringt – und so die ‚Philosophie‘ als das Reich der Frage ‚ti esti‘ erst erzeugt? (Jacques Derrida; Die Stimme und das Phänomen; S. 77) –

Schon an dieser Stelle von Derridas früher Schrift Die Stimme und das Phänomen (1967) wird deutlich, daß das Zeichen für ihn der zentrale Ansatzpunkt ist für seine Dekonstruktion der Metaphysik. Anlaß für die theoretische Ausarbeitung dieser Dekonstruktion ist Derridas Kritik an Husserls Phänomenologie in der Gestalt der Logischen Untersuchungen. Die späteren Konzepte der Präsenz, des Bewußtseins, der Stimme, Idealisierung und Iterabilität werden hier offengelegt. Derridas Kritik an der Phänomenologie Husserls läuft auf den Nachweis hinaus, „daß das Mittel der phänomenologischen Kritik selbst dem metaphysischen Entwurf […] angehört.“ (S. 53) Derridas Einwand richtet sich vornehmlich gegen die Husserl’sche Unterscheidung von „Ausdruck“ und „Anzeichen“. Die im weiteren Verlauf des Buches verschlungenen Argumentationswege konzentrieren sich schließlich auf die Erfahrung des s’entendre-parler: „Sobald ich spreche, gehört es zum phänomenologischen Wesen dieser Operation, daß ich mich in der Zeit, während ich spreche, zugleich vernehme.“ (S. 134) – Dieses Verhältnis des Sprechers, der während er spricht sich selbst vernimmt, ist für Derrida einzigartig, eine Selbst-Affektion, die sich von anderen Formen der Selbst-Affektion dadurch unterscheidet, daß die reine Phänomenalität bei der Affektion durch die eigene Stimme nicht durch eine Beteiligung der Außenwelt getrübt wird. Sie ist ungetrübtes Bei-sich-Sein, Selbstpräsenz schlechthin: „Diese Selbst-Affektion ist das, was man Subjektivität oder Für-sich nennt […] Diese Universalität bedingt, daß struktural begründet kein Bewußtsein ohne die Stimme möglich ist. Die Stimme ist das Bei-sich-Sein in der Form der Universalität, das Mit-Bewußtsein. Die Stimme ist das Bewußtsein.“ (S. 137)

(Nauplios – 13. September 2023)