Ad fontes

ἔτλαν δὲ πένθος οὐ φατόν: ἀλλὰ νῦν μοι Γαιάοχος εὐδίαν ὄπασσενἐκ χειμῶνος. ἀείσομαι χαίταν στεφάνοισιν ἁρμόσαις. ὁ δ‘ ἀθανάτων μὴ θρασσέτω φθόνος, ὅ τι τερπνὸν ἐφάμερον διώκωνἕκαλος ἔπειμι γῆρας ἔς τε τὸν μόρσιμοναἰῶνα. θνᾴσκομεν γὰρ ὁμῶς ἅπαντες: δαίμων δ‘ ἄϊσος: τὰ μακρὰ δ‘ εἴ τιςπαπταίνει, βραχὺς ἐξικέσθαι χαλκόπεδον θεῶν ἕδραν: ὅτι πτερόεις ἔῤῥιψε Πάγασος 45δεσπόταν ἐθέλοντ‘ ἐς οὐρανοῦ σταθμοὺςἐλθεῖν μεθ‘ ὁμάγυριν Βελλεροφόνταν Ζηνός: τὸ δὲ πὰρ δίκανγλυκὺ πικροτάτα μένει τελευτά.

Die Stelle aus Pindars siebter Isthmie übersetzt Hermann Fränkel so:

„Unsagbar war das Leid über den Verlust, der mich traf. Aber nun (wo ein isthmischer Sieg errungen ist) hat mir Poseidon (der Gott der isthmischen Spiele) heitere Stille verliehen nach dem Wettersturm. Ich will singen und mei Haar mit Kränzen schmücken. Möge kein Neid der Unsterblichen stören! Was der Tag an Freuden bringt, will ich aufsuchen, und gelassen meinem Alter entgegengehn und dem verhängten Dasein. Wir sterben ja einer wie der andre; ungleich aber ist der Daimon (das Lebensschicksal). Wer jedoch seine Augen richtet in weite Ferne, er langt nicht zu, den ehernen Boden der Götterwohnstätte zu betreten. Das Flügelroß warf ab seinen Reiter Bellerophontes, als er zur Gemeinschaft des Zeus nach dem himmlischen Wegziel zu fliegen gedachte.“ (Hermann Fränkel; Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums; S. 542)

Die Stelle ist bezeichnend für die archaische Sicht auf das Verhältnis der menschlichen Welt und seines irdischen Daseins zur „Wohnstätte“ der Unsterblichen. Zwar gilt das Streben des Menschen nach Höherem als gut und edel, doch soll dem nicht das Ziel der Teilhaftigkeit an der Gemeinschaft mit den Göttern zugrunde liegen. Das ist es das genaue Gegenteil von dem, was später das Christentum für erreichbar hält: die Gemeinschaft mit Gott. Die Götter Pindars hingegen sind eifersüchtig und rachsüchtig. Sie denken territorial und dulden die Sterblichen nicht in ihrer Wohnstätte. „Nie soll ein Mensch zum Himmel fliegen.“ (Alkman) Die Sterblichen und Unsterblichen teilen kein Revier. „Aufsuchen“ will das lyrische Ich, „was der Tag an Freuden bringt“, seinem Alter „gelassen entgegengehn“. Der Daimon führt dabei Regie, eine Art Gott der kleinen Dinge.

(Nauplios – 24. September 2023)

Πολλὰ τὰ δεινὰ κ’ οὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει. (Sophokles; Antigone; 332f)

Hölderlin hatte diesen Chor-Vers der thebanischen Alten am Beginn des zweiten Akts der Antigone 1799 übersetzt mit: „Ungeheuer ist viel. Doch nichts / ungeheuerer als der Mensch.“ – Heidegger übersetzt:

„Vielfältig ist das Unheimliche, nichts doch / Über den Menschen hinaus Unheimlicheres / ragend sich regt.“

Dazwischen liegen anderthalb Jahrhunderte, die einen Bedeutungshorizont aufspannen, der vom Ungeheueren (τὰ δεινὰ) zum Unheimlichen führt. Hölderlin legt den Akzent auf das Unfassbare, Unbegreifliche, Heidegger auf die darin anklingende existentiale Stimmung des Nicht-zuhause-seins in der Welt. Das Dasein ist dem Nicht-zuhause-sein ausgeliefert. Aus dem Unfassbaren ist bei Heidegger ein Unzuhause geworden. Das „Ragen“ läßt sich hier als das lateinische existere (herausstehen, hinausragen) verstehen, das eine Übersetzung des altgriechischen ἐξίστασθαι ist. Das entsprechende Substantiv ist ἔκστασις, das wir als Ek-stase, als ein Außersichsein verstehen.

Wo ist in dieser Transformation eines Tragödienverses dasjenige geblieben, was Searle „Intentionalität“ nennt? – Folgt man Derrida, sind die Zeichen geblieben, denen Sophokles, Hölderin und Heidegger einen aktuellen Sinn geben. Sie sind das logisch Primäre vor dem System der Sprache.

(Nauplios – 16. September 2023)