Barbara Cassin – Nostalgie

Daß ein Essay einer Altphilologin besondere Aufmerksamkeit erhält, ist eher selten. Barbara Cassin ist die Autorin eines solchen, der kürzlich erschienen ist. Barbara Cassin ist Mitglied der Académie française, vielfach mit Preisen ausgezeichnet, 2018 mit der Goldmedaille des Centre National de la Recherche Scientifique, der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung Frankreichs.

In ihrem Buch Nostalgie. Wann sind wir wirklich zuhause? geht sie zwei mythologischen Figuren und einer historischen Person nach: Odysseus, Aeneas und Hannah Arendt. Sowohl die Odyssee als auch die Aeneis gehören zu den Gründungsdokumenten der europäischen Tradition.

In die Heimat zurückzukehren nach Ithaka ist das durchgängige Motiv der „Irrfahrten“ des Odysseus. Die Odyssee ist ein Paradigma der Ordnung von Heimat, Exil und Muttersprache. Verzögerte Heimkehr ist nostalgische Dichtung schlechthin. „Nostalgie“ ist hier weniger ein Sehnen nach einer vergangenen Zeit als vielmehr die Sehnsucht nach einem Ort, der ein Zuhause darstellt. Dort ist man „verwurzelt“, hat seine Herkunft. Odysseus ist der Meister der Umwege; nach Ithaka zurückzukehren, kostet dem polytropen Held der Griechen 17 Jahre seines Lebens. Dann bringt ihn ein Zufall zurück zu seiner geliebten Frau Penelope. Zunächst erkennt er seine Insel gar nicht, wie überhaupt das Wiedererkennen auch mit Penelope sich verzögert. Er hat die Warnungen Kalypsos noch im Ohr:

„Doch wenn du wüßtest in deinem Sinne, wie viele Kümmernisse dir bestimmt sind zu erfüllen, bevor du in dein väterliches Land gelangst, du würdest hier am Orte bleiben und mit mir dieses Haus bewahren und unsterblich sein.“

Barbara Cassin hat den Blick auf die Odyssee aus der Sicht des Heimkehrers beschrieben, der am Ende doch sein Ziel erreicht. – Anders der Troer Aeneas. Für ihn gibt es keine Rückkehr mehr. Es verschlägt ihn an die italienische Küste, wo er Lavinium (nach dem Namen seiner Frau) gründet und Romulus zwei Generationen später Rom. –

Was ist Heimat? Worin besteht das Sehnen der Menschen, denen Rückkehr versagt bleibt? Barbara Cassin zitiert den auf Korsika verbannten Seneca:

„Der Geist ist es, der reich macht. Er begleitet uns in die Verbannung und […] in die rauhesten Einöden.“ – Am Beispiel der ebenfalls exilierten Hannah Arendt wird deutlich: Die Heimat liegt nicht an einem geografischen Ort, sie liegt in der Muttersprache. Arendt vollzieht eine Entkopplung von Sprache und Volk. Barbara Cassin stellt schließlich Hannah Arendts Verständnis von Muttersprache Heideggers Verständnis des Griechischen entgegen. Nicht das Vaterland ist Heimat, sondern die Muttersprache.

Barbara Cassins Essay, in dem sie die Barrieren von Philosophie und Dichtung unterläuft, ist ein Paradebeispiel für eine erzählende Philosophie, die reich an einem seltenen Gut ist: Gelehrsamkeit. –

(Nauplios – 10. September 2023)