Horst Bredekamp – Sandro Botticelli. Primavera. Florenz als Garten der Venus.

Horst Bredekamp, renommierter Kunsthistoriker in der Tradition Aby Warburgs (Kunstgeschichte als Bildwissenschaft), hat Ende der 80er Jahre eine Studie zu Botticellis La Primavera veröffentlicht, die den philosophischen Bezügen und der mythischen Figurenkonstellation in Botticellis Gemälde nachgeht. Die florentinische Renaissance ist ja eng mit der Familie der Medici verknüpft und ihren Machtkämpfen innerhalb und außerhalb. Hier setzt Bredekamps Studie an und beleuchtet die wechselvolle Geschichte des Gemäldes und dessen Beziehung zu den Auftraggebern. La Primavera hat heute einen epochalen Rang, während die zeitgenössischen Umstände und der Anlaß in den Hintergrund getreten sind. Das liegt u.a. daran, daß das großformatige Gemälde Botticellis (203 × 314 cm) in seiner Rezeption immer als hochgradig intellektuelles Kunstwerk verstanden wurde und seine Motive der alteuropäischen Mythologie und Literatur entnommen sind.

Wie auf einer Naturbühne gruppieren sich neun Personen zu einem Beziehungsgefüge. Am rechten Bildrand sieht man Zephyr, den geflügelten milden Westwind, der nach der fliehenden Nymphe Chloris greift, die sich ihm zuwendet. Chloris ist auch in ihrer Metamorphose als Vegetationsgöttin Flora zu sehen. Sie streut Blumen über die Wiese und in der Verkörperung als Chloris kommen Rosenblüten aus ihrem Mund. – In der Bildmitte ist Venus zu sehen. Ihr Gesichtsausdruck ist melancholisch und ein wenig in sich gekehrt. Horst Bredekamp hat hier ein Detail an der Augenpartie hervorgehoben:

„Den eigentlich rätselvollen Zug dieser Augen bewirken ihre Unterschiede; gegenüber dem vom Betrachter aus linken sind die Lider des rechten Auges, durch Lidstriche betont, tiefer herabgezogen, so daß der Kreis der Pupille oben stärker überschnitten ist, während unten entsprechend das Weiß des Augapfels in schmaler Bahn zwischen Pupille und Unterlid tritt. Diese Unterschiede werden verstärkt dadurch, daß das rechte Auge höher liegt als das linke, als würden die beiden Gesichtshälften zu zwei unterschiedlichen Personen gehören; deckt man abwechselnd den einen oder den anderen Gesichtsteil zu, so ergeben sich auf fast gespenstische Weise zwei unterschiedliche Wesen mit verschiedenen Stimmungslagen.“ (Horst Bredekamp; Primavera S. 19)

Oberhalb der Venus schwebt ihr ständiger Begleiter, der pfeilschießende Cupido, dessen Augen verbunden sind, um die Ziellosigkeit seiner Pfeilschüsse zu bekunden. Die antiken Quellen erwähnen auch eine Blindheit. Noch in Shakespeares Sommernachtstraum heißt es:

„Die Liebe siehet durch die Phantasie / Nicht durch die Augen, und deswegen wird / Der goldbeschwingte Amor blind gemalt. / Geflügelt ohne Augen deutet er / Der Liebe Hastigkeit im Wählen an.“

Die linke Bildhälfte zeigt die drei Grazien, die in ihrer Verschlungenheit das Ineinander von Geben, Nehmen und Zurückgeben thematisieren. „In der linken Grazie ist eine dezente Andeutung von Voluptas, in der mittleren, von Cupido angezielten Tänzerin die Keuschheit und in der rechten Gestalt die Schönheit zu erkennen.“ (S. 23)

Am linken Bildrand ist Merkur zu sehen wie er mit seinem Stab aufziehende Wolken vertreibt. Botticelli hat also die Symbolik und den mythologischen Hintergrund der Primavera („Frühling“) sowie den damit verbundenen Bedeutungsgehalt der Liebe und des Begehrens in dieses Gemälde eingebracht. Horst Bredekamp hebt zudem einen besonderen Zug daran hervor: das Zusammenspiel von Vegetation und Personen. Der Untertitel ist entsprechend gewählt: Florenz als Garten der Venus. Die Etymologie von „Florenz“ führt auf „Florenzia“, „Fiorenza“ zurück und damit ist die Lautnähe zur Frühlingsgöttin Flora beziehungsweise zu den Fiori (Blumen) gegeben.

(Venus Bilddetail aus Botticellis La Primavera )

(Nauplios – 12. September 2023)