Edmund Husserl – Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie

Von den Logischen Untersuchungen zur Krisis der europäischen Wissenschaften

In den Logischen Untersuchungen ging es Husserl noch um „nichts anderes als Besinnung und evidente Verständigung darüber, was Denken und Erkennen überhaupt ist.“ Logische Untersuchungen; Teil 2; S. 25). – Das Ziel war eine Beschreibung der „Denk- und Erkenntniserlebnisse“. – Die Rede von „Erlebnissen“ klingt zunächst befremdlich; gemeint ist das Bewußtseinsleben als Bewußtseinsstrom. Andere Bezeichnungen für diesen Bewußtseinsstrom sind „Immanenz“ bzw. „Subjektivität“ als „Verwebung der psychischen Erlebnisse in die Einheit des Erlebnisstroms“. Das Thema der frühen Phänomenologie ist also das bewußtseinsmäßige „Strömen“ der Erlebnisse. Das können sowohl Wahrnehmungserlebnisse oder auch Erlebnisse der Phantasie sein. Kennzeichen des Bewußtseins ist zunächst einmal sein Charakter als Kontinuum. Wie läßt sich eigentlich ein solcher „Gegenstand“ wie das Bewußtsein, das sich in diesem Fluß niemals gleich bleibt, beschreiben? – Denn das Bewußtsein wandelt sich stetig, ist ein „exzessiver Gegenstand“ und die Aufgabe der Phänomenologie sah Husserl nun gerade darin, eine Wissenschaft des reinen Bewußtseins, des Bewußtseins überhaupt, zu sein. –

Nun darf man sich das Bewußtsein nicht als einen Strom unkontrollierbarer und völlig kontingenter Zustände bzw. Erlebnisse vorstellen, denen der Mensch hilflos ausgeliefert ist; das Bewußtsein ist auch eine Form von Leistung. Die Leistungen des Bewußtseins bestehen in „Akten“, sog. „Noesen“ und diese „Akte“ erzeugen eine Bedeutung. Erst dadurch wird die Welt und auch das Bewußtsein in seiner Reflexivität als sinnhaft konstituiert. Andernfalls wäre die Welt ein Rauschen. Indem das Bewußtsein die Welt bzw. einen Gegenstand „konstituiert“, wird dieser sinnhaft, wird zu einem Gegenstand, den das Bewußtsein „meint“, auf den es sich „richtet“. Und dieses eigentümliche Gerichtetsein des Bewußtseins (auf etwas) nennt Husserl (anschließend an Brentano) „Intentionalität“. – Indem das Bewußtsein sich auf etwas richtet, etwas intentional „vermeint“, schafft es Bedeutungen. –

An dieser Stelle taucht schnell die Frage auf, wie zuverlässig denn die intentional vermeinten Gegenstände des Bewußtseins sind. Denn das Bewußtsein kann sich ja auch täuschen im Hinblick auf seine Gegenstände: ein Gegenstand wird zum Beispiel entgegen dem ersten Augenschein als belebt empfunden, obwohl er zunächst mal als Puppe wahrgenommen wurde. Die sinnliche Anschauung ist deshalb für Husserl auch nicht das oberste Erkenntnisprinzip, sondern es ist vielmehr die „kategoriale Anschauung“, die ideale Anschauung der inneren Wahrnehmung. – Die Gegenstände der sinnlichen Erfahrung sind uns nur in sog. „Abschattungen“ gegeben, nämlich nur in einer bestimmten Perspektive. Im Unterschied dazu sind die Bewußtseinserlebnisse selbst jedoch unmittelbar und ganz gegeben – unabhängig davon, ob die gegebenen Gegenstände existieren oder nicht. In der „ursprünglichen Anschauung“ beobachtet die Phänomenologie nur die Bewußtseinserlebnisse als solche. – Die Wahrheit wird dann gleichsam „erlebt“ und dieses „Erlebnis der Wahrheit“ nennt Husserl „Evidenz“. – Bei Kant war das Denken ein Ineinander eines selbsttätigen Verstandes einerseits und einer Empfindung andererseits. Für Husserl wird man damit jedoch dem Bewußtsein nicht gerecht, dessen ursprüngliche Erfassung als „transzendentale Subjektivität“ Kant verfehlt, weil er von der wissenschaftlichen Erkenntnis ausging, während Husserl in dieser wissenschaftlichen Erkenntnis das Ergebnis von letztlich subjektiven Konstitutionen sieht, welche allererst in ihrem Wirken aufgedeckt werden müssen. –

Bereits hier in den Logischen Untersuchungen bringt Husserl die Phänomenologie in Stellung gegen alle empirischen Wissenschaften. Die Philosophie soll nicht in der Rolle der Beraterin und Begleiterin der Naturwissenschaften aufgehen – wie es ansatzweise der Neukantianismus forderte.

In den Logischen Untersuchungen ist es zum einen der Psychologismus, die Auffassung, daß die Logik eine Angelegenheit psychischer Dispositionen ist, gegen den Husserl zu Felde zieht, zum anderen ist es der Naturalismus, gegen den sich Husserl wendet. – In einem Brief an Rickert heißt es einmal: „wir kämpfen als Bundesgenossen gegen den Naturalismus als unseren gemeinsamen Feind“. (Husserl Briefe; Bd. V; S. 178). – Der Naturalismus verkündet die „Naturalisierung des Bewußtseins“ und sogar die „Naturalisierung der Ideen“ (Philosophie als strenge Wissenschaft; S. 14); selbst in der Vernunft sieht er eine Folge der Tätigkeit des Neocortex. Es ist nicht so, daß Husserl die modernen Naturwissenschaften nicht auch bewundert hätte – zumal als Mathematiker. Dennoch lassen sich psychische Ereignisse nicht wie Naturereignisse interpretieren. Erlebnis ist etwas grundsätzlich anderes als „Natur“. Es hat „nichts mit Natur“ (Philosophie als strenge Wissenschaft; S. 36) gemein. – Der zähe Widerstand, den Husserl insbesondere der Naturalisierung von Geist, Vernunft und Erkenntnistheorie entgegenbringt durchzieht sein gesamtes Werk. –

„Eine Krisis unserer Wissenschaften schlechthin, kann davon ernstlich gesprochen werden?“ fragt Husserl zu Beginn seiner Krisis-Abhandlung – angesichts der ins Auge fallenden Erfolge dieser Wissenschaften! – Ist nicht der Erfolg die sicherste Indikation für ein gesundes und selbstbewußtes Wissenschaftsverständnis? – Was soll man oder darf man eigentlich anderes erwarten von einer Wissenschaft? – Ihr Erfolg verschafft ihr den Grund für ihre Berechtigung. „Fraglich“ geworden in und durch die Krisis ist ihre „echte Wissenschaftlichkeit“. – Gerade das ist ein Vorwurf, den man jedoch der Philosophie oft gemacht hat – gerade vor dem Hintergrund der „ständigen Erfolge“ der Wissenschaften! – Husserl ist sich bewußt, daß seine Umkehr der Frage nach der Wissenschaftlichkeit bzw. nach der Krisis der Wissenschaften bei seinen Zuhörern Befremden auslösen muß. Am Beispiel des Paradigmenwechsels von der klassichen Physik Newtons zu Planck und Einstein wird deutlich, daß es nicht der Methodenwechsel und die veränderten Fragestellungen sind, welche die Krisis dieser Wissenschaft bewirken. Die Physik bleibt eine exakte Wissenschaft – ob sie nun von Newton oder Einstein repräsentiert wird. – Unter größerem Legitimationsdruck ist allemal die Philosophie; denn ihre „Unwissenschaftlichkeit“ ist augenscheinlich. –

Nach der anfänglichen „rhetorischen Eröffnung“ nennt Husserl dann bereits den Grund für die diagnostizierte „Krisis der Wissenschaft“, nämlich den „Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit“. Das lange 19. Jahrhundert hatte mit seinen naturwissenschaftlichen Forschungserfolgen und technischen Errungenschaften die Welt des Menschen nachhaltig verändert. Die Wissenschaften galten als Motor einer Entwicklung, die mit der wirkmächtigen Metapher des Fortschritts belegt wurde. Ein Ende dieses Fortschritts war nicht abzusehen; die Grundstimmung der Gründerzeit war eine optimistische. In den Metropolen Europas entstanden breite Boulevards, Passagen und Prachtbauten und die Industriekultur prägte in den großen Städten die Landschaft. – Die Geisteswissenschaften hingegen geraten zu diesem Zeitpunkt immer mehr in die Defensive; der Legitimationsdruck, der auf sie lastet, wird umso größer je augenfälliger die Rolle der Naturwissenschaften im Zuge des Fortschritts wird. – Mit dem 1. Weltkrieg jedoch endet das lange 19. Jahrhundert in einem bis dahin kaum gekannten Ausmaß an Chaos und Orientierungslosigkeit. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts läßt die Fragen nach Sinn und Lebensbedeutsamkeit der menschlichen Existenz in völlig neuem Licht erscheinen. Von „unseligen Zeiten“ ist die Rede, von „schicksalvollsten Umwälzungen“, von Fragen nach dem „Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins“. –

„Was hat über Vernunft und Unvernunft, was hat über uns Menschen als Subjekte […] die Wissenschaft zu sagen? Die bloße Körperwissenschaft selbstverständlich nichts … “ – Von“Lebensnot“ ist die Rede. – Was macht diese „Lebensnot“ des Menschen aus? – Worin besteht sie? – Was hatte man sich vom Fortschritt der Tatsachenwissenschaften denn versprochen, daß es nun zu „bitteren Enttäuschungen“ kommt? –

„Wissenschaftliche, objektive Wahrheit ist ausschließlich Feststellung dessen, was die Welt, wie die physische so die geistige Welt, tatsächlich ist. Kann aber die Welt und menschliches Dasein in ihr in Wahrheit einen Sinn haben, wenn die Wissenschaften nur in dieser Art objektiv Feststellbares als wahr gelten lassen … ?“ –

Damit hat sich das „europäische Menschentum“ (Husserl) weit entfernt von seinem Aufbruch in die Neuzeit, der durch das Denken der Renaissance vorbereitet wird. In der Renaissance warf man die Fesselung durch die scholastischen Denksysteme des Mittelalters ab. Der Mensch sollte seine Vernunft in Freiheit entfalten und zwar durch Erforschung aller Natur- und Lebensbereiche. Der Philosophie kam dabei als Metaphysik die ehrenvolle Aufgabe zu, die Einheit der Wissenschaften herzustellen, d.h. den anderen Wissenschaften Sinn zuzumessen. In der so entstehenden Hierarchie stand die Metaphysik an oberster Stelle, derweil die Tatsachenwissenschaften die „Unterstufe“ bewohnten. – Kein größerer Kontrast ist dazu denkbar als die heutige Situation. Heute hat der Positivismus und die Engführung des Wahrheitsbegriffs die eigentlichen Fragen des menschlichen Daseins als unwissenschaftlich und nicht wahrheitsfähig zu Privatangelegenheiten gemacht, die sich allenfalls noch aus Weltanschauungen speisen. Von der dürftigen Suppe der Tatsachenwissenschaften ist keine Kräftigung des Menschen hinsichtlich seiner Selbstbehauptung in einer Welt zu erwarten, die sinn- und vernunftlos ist in ihrem Sein und ihrer Geschichte. – Die Wissenschaft hat ihre Führungsrolle in Sachen Lebensbedeutsamkeit abgegeben an Privatinvestoren, deren Bonität sich mit dem hohen Ideal des europäischen Menschentums der Renaissance nicht messen kann. Das System der Wissenschaften ist nur noch ein Torso der kopflos Tatsachen feststellt: „Der Positivismus enthauptet sozusagen die Philosophie.“ –

„In dieser Not uns besinnend, wandert unser Blick zurück in die Geschichte unseres jetzigen Menschentums. Selbstverständnis und dadurch inneren Halt können wir nur gewinnen durch Aufklärung ihres Einheitssinnes, der ihr von ihrem Ursprung her eingeboren ist mit der neugestifteten, die philosophischen Versuche als Triebkraft bewegenden Aufgabe.“ – (Husserl)

Weiter heißt es: „Wir Menschen der Gegenwart, in dieser Entwicklung geworden, … “ – Die Gegenwart und wir Menschen, die wir nun mal zufällig in dieser Gegenwart leben, haben eine historische Herkunft. Unser Blick wandert „zurück in die Geschichte“ und dadurch gelangen wir zu einem (anderen) „Selbstverständnis“ und nicht nur das; die Zurückwendung des Blicks führt auch zu einem „inneren Halt“, indem dieser Blick uns Orientierung verschafft.

Die Entwicklung zeigt folgendes: Das an der Universalität ausgerichtete Methodenbewußtsein hat in den positiven Wissenschaften zweifellos Erfolg gehabt. Die Philosophie ist davon nicht unbeeindruckt geblieben. Die Philosophie jedoch wurde sich „selbst zum Problem“ und ineins mit der Möglichkeit einer Metaphysik wurde auch die Möglichkeit der Tatsachenwissenschaften zum Problem, denn diese Tatsachenwissenschaften haben ihren „Beziehungssinn“ durch die Einheit der Philosophie. Alle neuzeitlichen Wissenschaften wurden – darin liegt gerade ihr „Beziehungssinn“ – als „Zweige der Philosophie“ begründet und damit geraten mit der fraglichen Einheit der Philosophie auch sie in die Krise – obwohl ihre wissenschaftlichen Erfolge und Errungenschaften durchaus anerkannt werden müssen: „Demnach bedeutet die Krisis der Philosophie die Krisis aller neuzeitlichen Wissenschaften als Glieder der philosophischen Universalität … „. – Diese Krisis, die nun manifest wird, tritt in ihrer aktuellen Gestalt für Husserl als „Krisis des europäischen Menschentums“ auf. –